"Nullerjahre - Jugend in blühenden Landschaften"

 

Ein schreiend gelbes Buch erregte vor kurzem meine Aufmerksamkeit:
"Nullerjahre - Jugend in blühenden Landschaften" von Hendrik Bolz

Nullerjahre
Bild: Kiepenheuer & Witsch

 

Darauf zu sehen: Ein junger Mann mit Picaldi-Hose (habe ich bei der Lektüre des Buches gelernt) und blauer Plastiktüte über dem Kopf.

Ein Buch, welches brüllt: "Nimm mich mit und lies mich!"

Aber vor allem der Klappentext hat es mir angetan:

Vom Austeilen und Auf-die-Fresse-Kriegen: eine Nachwendejugend in Mecklenburg-Vorpommern.

Hendrik Bolz, geboren 1988, ist in Stralsund aufgewachsen, im nordöstlichsten Winkel Deutschlands, in einer Welt, die, obwohl das Land längst nicht mehr »DDR« heißt, wenig mit dem zu tun hat, was im Westen als Normalität durchgeht. Lediglich das RTL-Nachmittagsprogramm, das im Hintergrund zu hören ist, deutet darauf hin: Es sind dieselben Nullerjahre.

Während in den Plattenbauten von Knieper West immer mehr Erwachsene die Suche nach einem Platz im neuen System aufgeben, nehmen Hendrik und seine Freunde die Herausforderung an: Sie finden Auswege aus der Langeweile und Fluchtwege, um keine Prügel zu kassieren. Langsam zerfallen die Frontlinien der Baseballschlägerjahre, an die Stelle der Springerstiefel treten Turnschuhe, die Böhsen Onkelz werden von Aggro Berlin abgelöst, die Optionen bleiben die gleichen: Fressen oder Gefressenwerden.

Im Kindergarten, in der Schule und im Fußballverein haben sie gelernt, dass ein großer Junge nicht weint und dass der Klügere nur so lange nachgibt, bis er der Dümmere ist. Nun gilt es, härter zu werden, um, wenn es drauf ankommt, dem anderen die Nase zu brechen. Und stumpfer zu werden, um dabei nicht zu zögern. Die Mittel finden sich – Kraftsport, Drogen, Rap. Und bald sind es neue »Kleine«, die sich verstecken müssen.

Hendrik Bolz erzählt eindringlich von einem Jahrzehnt im Osten Deutschlands, das uns ein Stück bundesrepublikanische Gegenwart erklären kann.

Da ich selbst aus der hübschen, kleinen Hansestadt ganz in der Nähe komme, war ich mehr als interessiert an dem Roman. 

Beim Lesen hatte ich allerdings mehrmals das Gefühl, dass Hendrik Bolz in einer ganz anderen Stadt aufgewachsen ist, als ich. Nun bin ich auch nicht gerade so viel älter als der Autor (ein paar kleine Jährchen sind es allerdings schon) und kenne die beschriebenen Orte mehr oder weniger gut. 

Und genau das machte für mich auch den Reiz an diesem Buch aus: Stralsund auf eine völlig andere Weise noch einmal neu kennenzulernen. Mehrmals dachte ich beim Lesen: "Das ist nicht mein Stralsund!" 

Ich gebe zu, dass ich auch in einem anderen Stadtteil von Stralsund aufgewachsen bin und Knieper West mehr oder weniger vom Durchfahren kenne. Aber auch gemeinsame Schnittstellen, wie zum Beispiel das Freibad, der Strelapark oder auch die Rügenbrücke bekommen in dem Buch ihren Raum.

Bevor ich Ihnen allerdings meine Meinung zu dem Buch präsentiere, kommt der Autor hier noch einmal selbst zu Wort:

Quelle: Youtube

Das erste Wort, welches mir beim Lesen des Romans durch den Kopf ging, war "Schonungslos". Schonungslos geht Hendrik Bolz mit seiner eigenen Vergangenheit ins Gericht und präsentiert auf dem Silbertablett seine Jugend. Da war von Drogen bis hin zu rechter Gewalt alles dabei. 

Das Buch hat mich teilweise an meine Grenzen gebracht, da ich die darin beschriebenen Gewaltszenen nicht begreifen kann. Hendrik Bolz nimmt hier auch kein Blatt vor dem Mund und das Erschreckende an der Sache ist: Man bekommt ein Gefühl dafür, wie die Gewaltspirale los geht und sich unaufhaltsam immer weiter dreht. Nichtsdestotrotz ist es meist die pure Langeweile, die den Antrieb für die Gewalt gibt.
Aber auch die Szene im Kindergarten (und ich möchte hier nicht spoilern) ließ mich fassungslos zurück. Nur soviel: Der ostdeutsche Erziehungsstil mancher KindergärtnerInnen bzw. ErzieherInnen hat keinen allzu guten Eindruck hinterlassen.

Bemerkenswert ist auch die Sprache des Coming-of-Age-Romans. Hendrik Bolz ist in seinem ersten Leben Teil des Rapper-Duos "Zugezogen Maskulin". Er kennt sich also mit Sprache aus und präsentiert in diesem Buch seinen ganz eigenen Stil. Auffälligstes Merkmal ist das Wiederholen von den gleichen Worten, um ihre Bedeutung zu unterstreichen. 

"Aus welcher Richtung sind wir gekommen? Scheiße, scheiße, scheiße, wo ist mein Latschen, hier muss er doch sein, suchen suchen suchen suchen suchen, ich muss hinterher, ich bekomme keine Luft mehr, immer hektischer wühle ich, aber nichts da, der Lichtschein verschwindet, jetzt werden sie mein Rufen nicht mehr hören, nur noch peinlich. Ich wühle, wühle, wühle, grabe Steine aus, feuchte Erde, graue Blätter.
Dann wird alles schwarz."
(Aus Nullerjahre von Hendrik Bolz)

Aber nicht nur die Jugend von Henrik Bolz wird beleuchtet. Ganz nebenbei setzt er alles ins Verhältnis zur Stralsunder bzw. ostdeutschen Geschichte und beschreibt Hintergründe, weist auf Zeitungsartikel hin oder zitiert beispielsweise Helmut Kohl (der den Begriff der blühenden Landschaften prägte), Gerhard Schröder oder bekannte (Rap-)Songs.

Ein Roman der mich einerseits sehr beeindruckt hat, mich aber teilweise auch völlig fassungslos zurück gelassen hat. Wie ich eingangs schon beschrieben habe, hatte ich mehrmals das Gefühl eine Geschichte über einen völlig fremden und gleichzeitig sehr vertrauten Ort zu lesen.


Wem der Sinn nach dieser schonungslosen Lektüre noch nach weiteren Stralsund-Büchern steht, kann gern einen Blick in unseren Katalog werfen. 

Und by the way: Stralsund ist auf jeden Fall immer eine Reise wert! Heute vielleicht sogar noch mehr, als in den Nullerjahren.

 

PS: Ein ausführliches Interview mit Hendrik Bolz zu seinem Debütroman gibt es im Musikexpress.

KB

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