" Mein Lebensprinzip war immer: Lieber mit Vollgas gegen die Wand als mit 80 gesund im Altersheim."
Der das sagt bzw. schreibt, ist Lorenz Gallmetzer, Jahrgang 1952, erfolgreicher Journalist in Print und TV in unserem Nachbarland Österreich, alkoholkrank. Trotz seiner derzeitigen Abstinenz: ist er süchtig.
In „süchtig“ skizziert Gallmetzer Lebensläufe von Menschen,
die er im Verlaufe seiner eigenen Therapie in der 1961 als „Trinkerheilanstalt“
gegründeten „Kalksburg“, heute mit mehr als 300 Patienten die größte
Suchtklinik Europas, kennen gelernt hat.
Doch zuerst beschreibt der Autor sein eigenes Leben, seinen
Weg in die Sucht,
die Achterbahn des Alkohols, verschiedene Therapien, Erfolge, Niederlagen, … In
einem Interview sagt er, er habe dies offenbaren wollen, um als Autor dieses
Buches glaubwürdig zu sein und bei seiner Schilderung der Schicksale anderer
Menschen nicht in die Rolle des Voyeurs zu geraten.
Diese einzelnen Fälle lesen sich wie therapeutische
Anamnesebögen, sehr sachlich und ehrlich, so dass der Leser „in sicherer
Distanz“ bleiben kann, wenn er mit der großen Palette menschlichen Leides
konfrontiert wird. Hier wird klar, was Sucht ist, egal ob Drogen jeder Art, Tabletten,
Alkohol oder Glücksspiel.
Da ist die Geschichte von H.J. (60), den der Autor in der
Bibliothek der Anstalt kennenlernt. Bei ihm war der Alkohol seit frühester
Jugend selbstverständlicher Bestandteil des Lebens. Er trank, weil „man eben
trank“, eine alkoholpermissive Umwelt, wie sie dem Leser in vielen der
Geschichten begegnet. Nach einem tragischen Ereignis, das ihn, glückliche
Fügung, endgültig vom Alkohol wegbringt, kommt die Spielsucht.
Er selbst sagt im Rückblick, er habe einen Kick gebraucht, um gegen sein
geringes Selbstwertgefühl anzukämpfen, „gegen die Kälte“ in ihm.
Oder R.M. (48), der bereits zum dritten Mal in der Klinik
ist. Erst zum Alkoholentzug, dann wegen einer Tablettensucht, nun wegen Alkohol
und Tabletten. Zur Überraschung des Lesers: R.M. hat jahrelang als Berufssoldat
im österreichischen Heer gedient, bis die Sucht ihm den Boden unter den Füßen
wegzog.
Den 41-jährigen G.K. sieht Gallmetzer zum ersten Mal barfuß
im Gras vor der Klinik. Er erklärt, dass er unter einer Überempfindlichkeit
allen äußeren Reizen gegenüber leide, die ihm seit seiner Kindheit zu schaffen
macht. Um diese Überflutung in seinem Inneren verkraften zu können, hat er
frühzeitig begonnen, sich mit Alkohol zu „befreien“, zu dämpfen.
Süchte sind oft Symptome für tieferliegende psychische
Probleme und Störungen, oft gehen Depression,
bipolareaffektiveStörungen, sogar BorderlineStörungen damit einher. Natürlich hören wir oft von schweren Kindheiten,
missglückten Beziehungen, sexuellem Missbrauch und Gewalt. So wie bei
Gallmetzer selbst werden aber auch stabile Charakteristika einer Persönlichkeit
geschildert: die Person, die ein Leben lang von einem melancholischen Grundrauschen
begleitet wird, das generell unsichere und schüchterne Kind etc.
Gallmetzer nähert sich den Personen und ihren
Krankengeschichten immer mit großem Respekt und so wird der Leser Zeuge von
Lebenskrisen, die diese Menschen entweder in den Phasen der Sucht oder den
Torturen des körperlichen Entzuges und den folgenden psychischen
Herausforderungen im Kampf um die dauerhafte und stabile Abstinenz durchlitten
haben oder noch durchmachen.
Sein Schreibstil ist spürbar journalistisch, mit nur einem
Mindestmaß an Fachbegriffen, so macht er es dem Leser leicht, den Geschichten
zu folgen. Das abschließende Interview mit dem Leiter der Klinik Kalksburg, Dr.
Michael Musalek, ist eine aufschlussreiche und gut verständliche Lektüre, die
dessen ressourcenorientierten Therapieansatz anschaulich beschreibt.
Ein anrührendes Buch ohne Larmoyanz und erhobenen
Zeigefinger, in dem viel Wissen vermittelt wird, nicht zuletzt auch das Wissen:
der Kampf gegen eine Sucht ist für die Betroffenen und ihr Umfeld ein
lebenslanges Projekt.
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